Von Yongey Mingyur Rinpoche
Übersetzung Artikel aus Lion´s Roar vom 8. November 2019
Warum denken wir schlecht über uns selbst, wenn wir doch von Natur aus gewahr, liebevoll und weise sind? Mingyur Rinpoche erklärt, wie wir hinter alles Vorübergehende blicken und unsere eigene Buddha-Natur entdecken können.
Illustration von Pascal Lemaitre
Warum sich schlecht fühlen, wenn wir natürlich gewahr, liebevoll und weise sind? Mingyur Rinpoche erklärt, wie wir über vorübergehende Dinge hinausschauen und die eigene Budha-Natur erdecken.
Die moderne Welt ist vernarrt in die Praxis der Meditation. Lächelnde Meditierende zieren die Titelseiten von Zeitschriften. CEO’s bringen Achtsamkeit an den Arbeitsplatz. Wir bringen sogar Kindern bei, in der Schule zu meditieren. Wenn man all die Bilder sieht und die Geschichten hört, wäre es leicht zu denken, dass der Sinn der Meditation darin besteht, in einer bestimmten Haltung zu sitzen und einer bestimmten Technik zu folgen.
Aber die wahre Kraft der Meditation liegt nicht in der Methode. Es geht darum, die Perspektive zu ändern. Im Mahayana-Buddhismus nennen wir es „die Sichtweise“. Die Sichtweise ist keine Technik. Es geht um die Frage, wie wir uns selbst sehen und zu unseren Gedanken und Gefühlen stehen. Ohne eine Veränderung in unserer Sichtweise werden selbst die effektivsten Meditationstechniken nur alte Muster und Gewohnheiten verstärken.
Die grundlegende Bedeutung der Buddha-Natur ist so tiefgründig wie einfach: Wir sind perfekt, genau wie wir sind, in diesem Moment.
Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass es sich für uns nicht real anfühlt. Wenn wir uns auf die Negativität konzentrieren, die unsere Buddha-Natur verdeckt, können wir sie selbst nicht wahrnehmen.
Ich konnte es nicht.
Ich bin mitten im Himalaya aufgewachsen, direkt am Fuße des Berges Manaslu, dem achthöchsten Berg der Welt. In meine Familie gab es großartige Meditierende und ich selbst wurde als ein reinkarnierter Lama erkannt, in Tibet Tulku genannt, als ich wenige Jahre alt war. Ich wurde in ein Märchen hineingeboren.
Das war aber nur oberflächlich betrachtet so.
Trotz der schönen Umgebung, in der ich aufwuchs und der liebevollen Familie und der spirituellen Vorbilder, von denen ich umgeben war, war meine Kindheit von Ängsten geprägt. Ich war 7 Jahre alt, als ich begann, Panikattacken zu bekommen. Die Panik folgte mir die meiste Zeit meiner Kindheit wie ein Schatten.
Das war etwa zur gleichen Zeit, als ich zum ersten Mal von der Buddha-Natur hörte. Mein Vater, ein renommierter Dzogchen-Meister, erzählte mir von der Bedeutung der Buddha-Natur. Aber ich glaubte ihm nicht. Zumindest glaubte ich nicht, dass es auf mich zutraf. Meine Realität waren Angst und Panik; die Buddha-Natur schien mir nur eine Fantasie zu sein. Es war die Erfahrung anderer, nicht meine eigene.
Als ich zum ersten Mal zu meditieren lernte, hoffte ich, dass es mir helfen würde, all meine Fehler und Mängel loszuwerden. Alle anderen, die ich kannte, schienen so ruhig und selbstsicher zu sein, aber ich war voller Angst. Ich fühlte mich zur Meditation hingezogen, weil ich mir ein neues, verbessertes „ich“ vorstellte. Eines ohne Angst und Sorge. Eines, das nicht so sensibel und leicht überwältigt war.
Ich versuchte immer wieder, meinen Weg in die Freiheit zu meditieren. Meditation wurde meine Waffe im Kampf gegen meinen eigenen Geist. Aber es funktionierte nicht. Es gab Zeiten, in denen mein Geist ruhig und die Panik verschwunden schien. Aber dann kam sie noch stärker zurück und jedes kleine Stück Selbstvertrauen, das ich entwickelt hatte, verschwand wie Nebel.
Der große Durchbruch kam, als ich endlich aufgab. Ich hatte meine Emotionen so lange und mit so wenig Erfolg bekämpft, dass ich mich letztendlich einer neuen Möglichkeit öffnete: vielleicht konnte ich nicht „repariert“ werden – nicht, weil ich grundlegend beschädigt, sondern weil ich nicht „kaputt“ war.
Also hörte ich auf, das alte Spiel zu spielen, und startete eine neues. Statt gegen meine Panik zu kämpfen und meine ängstlichen Gedanken und Erwartungen zu verdrängen, ließ ich sie hinein. Ich habe mich nicht auf sie konzentriert, aber ich ignorierte sie auch nicht mehr. Ich ließ das ganze „Tun“ fallen und gab mir endlich die Erlaubnis, einfach zu „sein“.
Ich möchte sagen, dass dies so ist, als ob die Erde bebt und die Wolken sich teilen, aber zuerst war es unbequem und ungewohnt, den Impuls loszulassen, immer etwas zu „tun“. Meine Impulse verschwanden nicht, aber ich ließ sie kommen und gehen, ohne ihnen zu folgen – sogar den Impuls zu „meditieren“. Ich habe nicht einmal dies getan. Ich war einfach da.
Es war so einfach und normal, aber es war ein radikaler Wandel: Ich habe nicht länger versucht, das alte Spiel zu gewinnen.
In diesem Moment des Loslassens begann ich zu sehen, dass ich den Sinn von Meditation komplett verfehlt hatte. In meinem endlosen Bestreben, den gegenwärtigen Moment zu verbessern, versperrte ich mir selbst den Blick auf das, was schon da war und immer da ist. Die Buddha-Natur. Unsere uns innewohnende Vollkommenheit. Unsere wahre Natur.
Wie meine Erfahrung zeigt, ist es nicht einfach, die Ansicht, dass wir grundsätzlich fehlerbehaftet sind, loszulassen. Wir erhalten in unserem Alltag so viele Botschaften, die uns das Gegenteil erzählen. Wir sind nicht schlau genug, schön genug oder ausreichend erfolgreich. Wenn wir nur härter arbeiten, gesünder essen oder nur weniger gestresst sein könnten, dann würden wir uns vielleicht, aber nur vielleicht, endlich wohl fühlen.
Die Grundannahme in all diesen Botschaften ist, dass wir nicht gut genug sind und es vielleicht niemals sein werden. Es spielt keine Rolle, was wir im Leben erreichen, wie wir aussehen oder wie weit wir die Leiter des Erfolges emporsteigen. Es fehlt immer etwas.
Wenn wir diese Annahme nicht hinterfragen, kann Meditation leicht eine subtile Form von Aggression werden. Es mag uns gelingen, die turbulenten Gewässer unseres Geistes für ein paar flüchtige Momente zu beruhigen, aber letztendlich werden wir das alte Verhalten, nur unsere Fehler zu sehen, verstärken. Egal was wir tun und wie sehr wir uns anstrengen, wie sonst im Leben auch, wird es immer einen weiteren Berg zu besteigen geben. Es gibt keinen Weg, dieses Spiel zu gewinnen.
Die Buddha-Natur ist kein besserer Weg, das gleiche alte Spiel zu spielen. Es ist ein komplett anderes Spiel. Das Prinzip der Buddha-Natur lädt uns ein, unsere Erfahrungen auf neue Art und Weise zu erforschen – nicht mit dem Blick darauf, was falsch ist, zu korrigieren, sondern das zu bemerken, was immer richtig war.
Unser müheloses Gewahrsein
Eine der ersten Qualitäten der Buddha-Natur, in die mich meine Lehrer eingeführt haben, war das Gewahrsein. Gewahrsein ist wie ein Faden, der sich durch jede unserer Erfahrung zieht. Unsere Gedanken und Emotionen ändern sich ständig. Unsere Reaktionen und Wahrnehmungen kommen und gehen. Doch trotz dieser Änderungen ist unser Gewahrsein immer gegenwärtig. Es ist weit offen und annehmend wie der Himmel, unermesslich tief und weit wie der Ozean und stabil und beständig wie ein massiver Berg.
Das Gewahrsein wird nicht besser, wenn wir einen inspirierenden Gedanken oder ein erhabenes Gefühl haben. Es wird nicht schlechter, wenn wir komplett neurotisch sind. Gewahrsein ist einfach. Es ist nichts, was wir tun. Es ist, wer wir sind.
Da das Gewahrsein immer da ist, müssen wir es lediglich erkennen. Wir müssen es nicht verbessern und könnten es auch nicht, auch wenn wir es versuchten.
Die größte Herausforderung beim Gewahrsein ist, dass es so nah ist, dass wir es nicht sehen. Es ist so gewöhnlich, dass wir es nicht glauben. Es ist lediglich Wissen, mühelose Gegenwärtigkeit.
Wer liest das gerade? Wer macht diese Erfahrung? Es ist das Gewahrsein. Dieses Gewahrsein ist, wer wir gerade sind, in diesem Moment.
Lasst und eine kurze Übung machen, um das mühelose Gewahrsein zu erleben:
Bevor du weiterliest, halte einen Moment inne.
Lass das Tun für einen Moment los und erlaube dir, zu sein.
Meditiere nicht über den Atem …. atme einfach.
Meditiere nicht über Geräusche ……. höre einfach nur.
Jetzt tue nichts mehr. Sei einfach da.
Was auch immer dieser Moment für dich bereithält, erlebe es einfach so, wie es ist.
Das Gewahrsein selbst ist ganz und vollständig. Es ist immer da und kann alles annehmen. Wir können reden, wir können uns bewegen, wir können sogar lesen, so wie wir es gerade tun. All dies geschieht im Gewahrsein.
Unsere natürliche Liebe und unser Mitgefühl
Diese mühelose Gegenwärtigkeit ist kein leerer, lebloser Zustand. Es ist lebendig und tief mit der Welt verbunden.
Wenn wir einfach gegenwärtig sind mit dem, was in uns und um uns herum geschieht, dann entsteht ein natürliches Gefühl von Liebe und Mitgefühl. Wie das Gewahrsein sind das keine Qualitäten, die wir erst entwickeln und kultivieren müssen. Das sind beständige Qualitäten unserer wahren Natur.
Der Ursprung des Mitgefühls liegt in unserem sehr einfachen Wunsch, Schmerz und Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Liebe ist im Impuls in Richtung Glück und Verwirklichung präsent. Wir erfahren dies in jedem Moment. Wenn wir unsere Haltung ändern oder mit den Augen blinzeln, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, drücken wir Mitgefühl aus. Wenn wir einen Schluck Wasser genießen oder auf das Lächeln eines Freundes reagieren, erfahren wir Liebe.
Liebe und Mitgefühl sind vorhanden, wenn wir sie am wenigsten erwarten. Sie sind sogar in schmerzvollen Emotionen wie Angst und Wut vorhanden, da diese Reaktionen in dem Impuls verankert sind, Schmerz und Unannehmlichkeiten zu vermeiden und Glück und Wohlbefinden zu erfahren. Sie waren auch während meiner Panik-Attacken vorhanden. Ich wollte nicht mehr leiden. Ich wollte mich sicher und geborgen fühlen. Ich wusste nur nicht, wo ich suchen sollte. Aber was ich nicht sah, war, dass der Instinkt, glücklich und frei von Leid zu sein, immer da war.
Halte einen Moment inne und sieh, ob du diese Qualitäten spüren kannst.
Fühlst du den Impuls, dich von Unannehmlichkeiten zu entfernen oder etwas Unangenehmes zu vermeiden?
Nimm es einfach zur Kenntnis.
Dieses Gefühl ist Mitgefühl.
Kannst du den Wunsch spüren, Glück, Zufriedenheit oder einfach ein Gefühl von Ganzheit zu erfahren?
Ruhe für einen Moment und sieh, was du bemerkst.
Diese subtile Bewegung hin zum Glück ist Liebe.
Wenn du das gelesen hast und deinen Tagesablauf fortsetzt, dann nimm diese Eigenschaften auch bei anderen Menschen wahr. Sie sind wie die Strahlen der Sonne. Solange das Gewahrsein vorhanden ist, sind auch Liebe und Mitgefühl vorhanden.
Die uns innewohnende Weisheit
Eine andere wesentliche Eigenschaft unserer Buddha-Natur ist Weisheit. Jeder von uns hat eine tiefe Einsicht. Wir bemerken es vielleicht nicht immer, aber sie ist da.
Wir alle suchen verzweifelt nach etwas. Wir wissen nicht immer, was es ist, aber wir spüren, dass etwas fehlt. Also suchen und suchen wir weiter.
Weisheit ist der ständige Begleiter bei all dieser endlosen Suche. Auf einer tiefen Ebene wissen wir, wenn wir am richtigen Ort suchen. Und wenn wir uns alten Gewohnheiten hingeben, wissen wir, dass wir vom Weg abgekommen sind. Wir hören nicht immer auf diese Stimme, aber sie ist da. Wir sind wie ein Vogel, der von Baum zu Baum fliegt und nach seinem Nest sucht. Wir wissen, dass wir zuhause sind, wenn wir es gefunden haben, und solange wir nicht da sind, wissen wir, dass wir weitersuchen müssen.
Wenn wir damit anfangen, vom Tun ins Sein überzugehen, beginnen wir das Gefühl, endlich zuhause zu sein, zu spüren. Wir können die Suche loslassen und entspannen. Niemand muss es uns sagen, sobald dies geschieht. Dieses intuitive Wissen ist Weisheit. Jeder Gedanke, jede Emotion und jeder Impuls ist in dieser Weisheit verwurzelt. Wir müssen es nur erkennen.
Die Buddha-Natur erkennen
Wenn Gewahrsein, Mitgefühl und Weisheit Qualitäten wären, die wir erlangen oder entwickeln könnten, dann wäre es vollkommen sinnvoll, etwas zu tun, um sie zu kultivieren. Aber wir müssen sie nicht kultivieren, weil sie Teil unserer grundlegenden Natur sind. Wir haben sie bereits.
Jeder Versuch, das gegenwärtige Geschehen zu ändern, zu korrigieren oder zu verbessern, bekräftigt die alte Überzeugung, dass wir etwas vermissen. Unternehmen wir andererseits nichts, sind wir genau da, wo wir gestartet sind. Nichts wird sich ändern.
Der Schlüssel zu diesem Paradoxon ist das Erkennen. Die Buddha-Natur ist nichts, was wir tun, sondern es ist etwas, das wir erkennen müssen.
Ein einfacher Weg, dies in unserer Meditationspraxis zu erkunden, ist, von Zeit zu Zeit innezuhalten und einfach zu sein. Wenn unsere übliche Meditation darin besteht, uns auf den Atem zu konzentrieren, dann lassen wir die Meditation von Zeit zu Zeit los und sind einfach nur. Wir kontrollieren in keiner Weise unsere Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit ist wie eine Brise, das Gewahrsein ist wie der Himmel selbst. Wir müssen den Geist nicht beruhigen. Das Gewahrsein ist bereits ruhig.
Alle Gedanken und Gefühle, die entstehen, können sich selbst überlassen werden. Es gibt keine einzige Erfahrung, die dem Gewahrsein im Weg stehen kann. Lassen wir sie einfach alle da sein und erkennen, dass das Gewahrsein auch immer da ist. Wenn wir uns unseres Gewahrseins gewahr sind, ist das ausreichend.
Das wird sich zunächst ungewohnt anfühlen. Es kann sogar beunruhigend sein und ihr werdet mit ziemlicher Sicherheit den Rest der Handlungsimpulse spüren. Das ist normal. Während eure Vertrautheit mit dieser Qualität des Seins wächst, werdet ihr beginnen zu sehen, dass Mitgefühl und Weisheit ebenfalls hier sind. Ihr werdet feststellen, dass ihr niemals vollkommener seid als jetzt in diesem gegenwärtigen Moment.