Ein Interview mit Prof. Richard J. Davidson
aus buddhistdoor.net
Professor Richard Davidson ist ein renommierter Neurowissenschaftler, Professor für Psychologie und Psychiatrie, Gründer und Leiter des Center for Healthy Minds und Direktor des Waisman Laboratory for Brain Imaging and Behavior, alle an der University of Wisconsin-Madison, USA. Außerdem ist er mit dem Dalai Lama befreundet und Buddhist mit mehr als 40 Jahren Meditationserfahrung, welche er als “sehr zentral für mein (sein) Leben” bezeichnet.
Nachdem er als Doktorand an der Harvard Universität die Meditation “entdeckte”, beschloss Prof. Davidson, das Thema Achtsamkeit aus neuropsychologischer Perspektive zu studieren, obwohl ihn akademische Berater davor warnten, da es als “akademischer Selbstmord” eingestuft wurde. Doch eine Begegnung mit dem Dalai Lama im Jahr 1992 änderte alles von Grund auf. Der Dalai Lama forderte ihn auf, mit den Methoden, die er zur Erforschung von Angst-, Panikstörungen und Depressionen verwendet hatte, die positiven Qualitäten des Lebens wie Güte und Mitgefühl zu erkunden. Prof. Davidson nahm die Herausforderung mit ganzem Herzen an, und seine bahnbrechende Forschung zur Achtsamkeitspraxis hatte viele wissenschaftliche Publikationen, Bücher, Vorträge und sogar einen Platz auf der Liste der “100 einflussreichsten Persönlichkeiten” des Time Magazine zur Folge.
Für eine seiner ersten Achtsamkeitsstudien lud Prof. Davidson buddhistische Mönche in sein Labor ein, um Muster der Gehirnaktivität, die beim Meditieren entstehen, zu untersuchen. Einer der Mönche, die am Experiment teilnahmen, war der Meditationslehrer Yongey Mingyur Rinpoche, der oft als “der glücklichste Mensch der Welt” bezeichnet wird.
Während eines Leadership Workshops mit Mingyur Rinpoche in Hong Kong im Oktober 2017 hatte Buddhistdoor Global die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Prof. Davidson, um so mehr über ihn als Person und seine Arbeit zu erfahren.
Das Gespräch drehte sich zunächst um eine der faszinierendsten Erkenntnisse von Prof. Davidsons Forschung: um die Überlegung, dass Meditation das menschliche Gehirn mittels neuronaler Plastizität neu “verdrahten” kann – unter neuronaler Plastizität versteht man die Fähigkeit des Gehirns, sich selbst ein Leben lang mittels Bildung neuer neuronaler Verbindungen umzugestalten: “Neuroplastizität geschieht die ganze Zeit über, mit oder ohne unser Wissen. Die meiste Zeit sind wir uns der Kräfte, die unser Gehirn formen, nicht bewusst… während eines jeden fortlaufenden Lernprozesses findet Neuroplastizität statt, auch wenn es ein negativer Lernprozess ist, z.B. während einer traumatischen Erfahrung… der Aufforderungscharakter von Meditation besteht darin, dass wir mehr Verantwortung für das, was in unserem Gehirn geschieht, übernehmen können und unseren Geist umformen, um positive Eigenschaften und gesunde mentale Gewohnheitsmuster zu stärken.
Meditation kann mit “mentalem Training” verglichen werden; wir können unser Gehirn dahingehend trainieren, mit schlechten Angewohnheiten Schluss zu machen. Doch genauso wie beim Fitnesstraining, genügen eine oder zwei Übungsstunden nicht, um nachhaltige Veränderungen herbeizuführen. Wir müssen das Training regelmäßig ausüben.
Ein Weg, mit dem wir laut Prof. Davidson Meditation als Instrument zur Neubildung von neuronalen Verbindungen nutzen können, ist die Steigerung unseres Wohlbefindens. Optimales Wohlbefinden besteht nach Prof. Davidson aus vier Komponenten: Gewahrsein (awareness), Verbindung (connection), Einsicht (insight) und Bestimmung (purpose).
´Gewahrsein´ ist unser grundlegendes Vermögen, die Welt zu erkennen, an der Welt teilzunehmen. ´Verbindung´ ist das Vermögen, mit anderen auf harmonische Weise in Beziehung zu treten, sich in gemeinschaftlichen und prosozialen Aktivitäten einzubringen. Mittels ´Einsicht´ erkennen wir, wie unser Geist arbeitet, insbesondere was die Vorstellung eines “Selbst” betrifft und können so ein gesundes Gespür von einem „Selbst“ entwickeln. Mit ´Bestimmung´ ist die höhere Bestimmung, die wir im Leben haben, gemeint. Unser Wohlbefinden ist dadurch geprägt, zu erkennen was unsere höhere Bestimmung ist und unser alltägliches Verhalten und Erleben darauf auszurichten.
Jede dieser vier Komponenten ist bereits im Geist vorhanden, doch mithilfe der Meditation können wir damit vertrauter werden. Meditation verstärkt unser Gewahrsein. Üblicherweise ist uns nicht wirklich bewusst, was wir tun, doch Meditation steigert das Gewahrsein. Und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es uns glücklicher machen kann, wenn wir uns bewusst sind, was wir tun, sogar wenn es sich um eine langweilige, ganz alltägliche Tätigkeit handelt. Liebende Güte-Meditation und andere Übungen, die auf das Entwickeln von Mitgefühl ausgelegt sind, können Verbundenheit stärken, was Eigenschaften wie Verständnis, Dankbarkeit, Güte und Anteilnahme umfasst.
Einsicht, oder die Wahrnehmung eines Selbst, bezieht sich darauf, was buddhistische Meditationslehrer oft den “verrückten Affengeist” nennen – das Äffchen in unserem Geist, das ununterbrochen nach Aufmerksamkeit schreit. Wenn wir uns in Meditation vertiefen, können wir uns diesen Affengeist vornehmen, beobachten und uns mit ihm austauschen. Wir können den Affengeist als das sehen, was er ist, anstatt von ihm vereinnahmt zu werden, wenn einmal etwas Ruhe einkehrt und unser Geist abgelenkt ist und unsere Zweifel und Befürchtungen an die Oberfläche kommen.
Es gibt kein festes Rezept dafür, wie schnell wir unser Wohlbefinden durch Achtsamkeit steigern können. Prof. Davidson sagt: “Wie schnell oder langsam diese Fähigkeiten entwickelt werden können, ist von Person zu Person ganz verschieden. Die wissenschaftliche Forschung zeigt ganz eindeutig, dass unser Wohlbefinden gesteigert werden kann, und der Weg dorthin führt über einfache Meditationspraxis oder Achtsamkeitstraining, das auf jede dieser vier Komponenten wirkt. Es gibt da sehr einfache Übungen, welche die meisten Menschen machbar finden, insbesondere über kurze Zeiträume.”
Und als Draufgabe scheint Wohlbefinden mit körperlicher Gesundheit in Zusammenhang zu stehen; Menschen, die über ein höheres Wohlbefinden berichten, sind im Allgemeinen gesünder. Wenn wir also das Wohlbefinden unseres Geistes steigern, kann dies die körperliche Gesundheit unseres Körpers beeinflussen.
Der Nutzen von Achtsamkeit und Meditation erstreckt sich auf unser Arbeitsleben und ist nicht nur eine stressreduzierende Methode, sondern ein Weg, Aspekte von Führungsqualitäten zu üben, welche nach Prof. Davidson Gewahrsein und Einfühlungsvermögen – „die Fähigkeit, vollständig präsent, aufmerksam und in der Lage zu sein, die Perspektive anderer einzunehmen“ – sind.
Die Fähigkeit, mit anderen eine Verbindung zu schaffen, wird in der Unternehmenswelt als sehr wichtig erachtet, wo diejenigen, die eine Nähe zu anderen haben, in der Regel verständnisvoller und besser beim Lösen von Problemen sind als ihre KollegInnen. Prof. Davidson erwähnte Forschungsbeiträge seines Kollegen Dr. Goleman, die belegten, dass der EQ, die emotionale Intelligenz, mehr als der IQ den Karriereerfolg bestimmt. Der EQ ist doppelt so einflussreich wie der IQ in Hochschulkarrieren. Und das Einfühlungsvermögen und das Gewahrsein, die durch Meditation gesteigert werden können, bilden die Grundlage emotionaler Intelligenz.
Prof. Davidsons Definition von Unternehmensführung scheint sich in den meisten Unternehmen wesentlich von der täglichen Realität zu unterscheiden, wo hohe Positionen oft nicht mit Empathie, sondern mit Verdrängungswettbewerb verbunden sind. Das widerspricht scheinbar auch der Forschung von Dr. Nathan Brooks, der zu dem Schluss kam, dass eine große Anzahl von Unternehmensführern psychopathische Merkmale aufweist. Laut Prof. Davidson ist dies das Ergebnis der vorherrschenden Unternehmenskultur und beweist nicht, dass psychopathische Führungskräfte tatsächlich besser sind als einfühlsame:
“Immer mehr Beweise deuten darauf hin, dass die effektivsten Manager Führungskräfte sind, die in der Tat das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter fördern,“ fiel ihm auf. “Während einige psychopathische Führungskräfte wohl erfolgreiche Unternehmen geführt haben, wissen wir nicht, ob eine mitfühlendere Leitung noch besser gewesen wäre. Es gibt nicht genügend Daten, um dies in realen Situationen zu überprüfen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass Letzteres wahr ist, dass das Handeln mit Freundlichkeit und Mitgefühl letztendlich eine effektivere Strategie für die Führung eines Unternehmens ist.“
Prof. Davidson hat auch eine wichtige Botschaft für Eltern. Wie gesagt, ist es eher der EQ als der IQ, der den Erfolg eines Kindes im späteren Leben zu bestimmen scheint: “Alle uns bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Fähigkeiten, die mit sozialer und emotionaler Entwicklung in Zusammenhang stehen, wichtiger sind als intellektuelle Kompetenzen, sobald ein bestimmtes IQ-Niveau erreicht ist, das ein gelingendes Leben bestimmt. Aus Längsschnittstudien wissen wir, dass Erfolg im frühen Erwachsenenalter stark mit den sozialen und emotionalen Fähigkeiten in der Kindheit zusammenhängt. Und soziale bzw. emotionale Fähigkeiten sind wichtiger und machen einen größeren Unterschied bei späteren Ergebnissen im Erwachsenenalter als IQ, GPA und standardisierte Testergebnisse zusammen.”
Kinder erlernen soziale und emotionale Fähigkeiten, indem sie mit Gleichaltrigen spielen und interagieren. Und Meditationsübungen helfen den Kindern wohl bei diesem inneren Wachstum. In einer von Prof. Davidson und seinem Team durchgeführten Studie scheinen selbst kleine Portionen von Meditationspraxis Einfühlungsvermögen, Kooperation, kognitive Fähigkeiten und Aufmerksamkeit zu fördern und sogar die Noten zu verbessern. *
Laut Prof. Davidson sollten wir jedoch vorsichtig sein, Achtsamkeitspraxis lediglich als Leistungssteigerung für Kinder einzusetzen: “[Wenn] Achtsamkeit zur Leistungsförderung eingesetzt wird, kann dies Eigenschaften verstärken, die möglicherweise nicht so gesund sind. Ich denke, dass das sorgfältig und vor allem in einem ethischen Kontext erfolgen muss. Einem Kontext, in dem diese Praxis ursprünglich gelehrt wurde, nämlich um anderen und sich selbst zu helfen.”
Das waren also einige Beispiele für die Vorteile, die Meditation und Achtsamkeit haben können, doch laut Prof. Davidson hat der Buddhismus der modernen Neuropsychologie und Psychiatrie mehr als nur Meditation und Achtsamkeit zu bieten: “Ich denke, dass es einen übermäßigen Fokus auf Achtsamkeit gab, wobei andere Arten von Praxis vernachlässigt wurden. Die analytischen Praktiken des Buddhismus wurden beispielsweise nie untersucht, was unserer Meinung nach sehr wichtig sein könnte. Und außerdem gibt es andere Elemente des buddhistischen Pfades, wie zum Beispiel die Sichtweise und der ethische Rahmen, die neuronale Veränderungen hervorrufen können. Ich denke, dass es sehr wichtig wäre, das zu erforschen.”
* Für diejenigen, die die Achtsamkeitspraxis in der Schule oder für ihre Kinder einführen möchten, haben Prof. Davidson und sein Team ein “Kindness Curriculum” entwickelt, um Kindern beizubringen, sich und anderer bewusst zu sein, was wiederum positive Eigenschaften wie Freundlichkeit und Impulskontrolle verstärkt. Weitere Informationen befinden sich auf der Website des Center of Healthy Minds.