Ein Interview mit Yongey Mingyur Rinpoche
aus buddhistdoor.net
Yongey Mingyur Rinpoche, manchmal als der “glücklichste Mensch der Welt” bezeichnet, ist ein angesehener Lehrer und Meister der Karma Kagyü und Nyingma Schule des tibetischen Buddhismus. Er ist dafür bekannt, die Praxis der Meditation auf einfache und leicht zugängliche Art und Weise zu vermitteln.
Rinpoche, ein glühender Verfechter des tiefgründigen Nutzens buddhistischer Achtsamkeitsmeditation, beschreibt, wie es ihm als jungem Menschen gelang, durch beständige und engagierte Meditationspraxis eine ernste Panikstörung zu überwinden.
1975 im Himalaya in der Grenzregion zwischen Nepal und Tibet geboren, erhielt Mingyur Rinpoche eine umfangreiche Ausbildung in den meditativen und philosophischen Traditionen des tibetischen Buddhismus. Die Kunst der Meditation lernte er von seinem Vater, Tulku Urgyen Rinpoche (1920–96), welcher als einer der erstrangigen Dzogchen Meister unserer Zeit gilt. Im Alter von elf Jahren setzte Mingyur Rinpoche seine Studien im Sherab Ling Kloster in Nordindien fort. Nach nur zwei Jahren begab er sich in ein Drei-Jahres-Retreat und absolvierte ein zweites sofort im Anschluss, in dem er als Retreatleiter fungierte. Im Alter von 23 Jahren erhielt Rinpoche die vollständige Ordination zum Mönch.
In den Jahren 2011 bis 2015 unternahm Rinpoche ein Aufsehen erregendes vierjähriges Einzel-Wander-Retreat durch den Himalaya. In seinen Erzählungen darüber, wie er mit seinem Ehrgeiz wie ein richtiger Wander-Yogi zu praktizieren, zurechtkam, enthüllt Rinpoche einige der zahlreichen persönlichen und spirituellen Herausforderungen, mit denen er es zu tun hatte – inklusive der Begegnung mit dem Tod. Er bezeichnet die Jahre, die er im Himalaya wandernd verbrachte, als “eine der besten Zeiten meines Lebens”.
Mingyur Rinpoche ist der Begründer der Tergar Meditationsgemeinschaft, die Zentren und Praxisgruppen über den Globus verteilt unterhält. Er ist Bestseller-Autor von „Buddha und die Wissenschaft vom Glück“ (The Joy of Living: Unlocking the Secret and Science of Happiness, 2007), „Heitere Weisheit: Wandel annehmen und innere Freiheit finden“ (Joyful Wisdom: Embracing Change and Finding Freedom, 2009) und „Werde ruhig wie ein tiefer See: Vorbereitende Übungen des tibetischen Buddhismus“ (Turning Confusion into Clarity: A Guide to the Foundation Practices of Tibetan Buddhism, 2014).
Buddhistdoor Global hatte das Privileg, mit Mingyur Rinpoche während seines jüngsten Aufenthalts in Hongkong zu sprechen, wobei er mit uns einige seiner Gedanken über das Leben und den Buddhismus im 21. Jahrhundert teilte.
Buddhistdoor Global: Vielen Dank dafür, Rinpoche, dass Sie Ihre kostbare Zeit mit uns teilen. Vor kurzem sprachen Sie (bei Buddhist Global) über die Zeit des Wanderretreats, das Sie von 2011 bis 215 unternommen haben. Welchen Einfluss hatten diese Erfahrungen damals auf Ihre persönliche Praxis?
Yongey Mingyur Rinpoche: Ich habe aus dieser Erfahrung viel gelernt, doch es gab da zwei Dinge, die besonders hervorstachen: Zu Beginn war da Angst – große Angst, denn ich wurde krank und bin fast gestorben. Das war der Punkt, an dem ich mich entschied, den Dingen ihren Lauf zu lassen – zuzulassen, dass, was immer geschieht, geschieht. Das war wirklich hilfreich für meine Meditationspraxis; das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, dass ich viel über das Leben und darüber, wie es zu führen ist, lernte. Normalerweise bin ich ein “Rinpoche” für die Menschen um mich herum, und wohin ich auch gehe, werde ich so behandelt – ich habe meine eigene Sphäre, die ich nie verlasse.Vor dem Retreat habe ich niemals auch nur eine Stunde auf der Straße als Bettler verbracht und nun musste ich das erste Mal in meinem Leben bei Null beginnen: im Gebirge leben, Feuerholz suchen, lernen, wie man Feuer macht, wie man Wasser kocht und wie man Essen zubereitet! [Rinpoche lacht]
BDG: Hat Ihr Retreat auch die Art und Weise, wie Sie den Dharma lehren, verändert?
YMR: Oh, ja. Ich möchte nun auf eine mehr erfahrungsbezogene Art und Weise lehren – etwas, was ich „Kopf, Herz und Gewohnheit“ nenne. Wir sollten den Dharma nicht nur mit dem Kopf und dem Herzen verstehen, sondern müssen das Gelehrte auf eine praktische Ebene bringen – was wir im täglichen Leben anwenden können. Das ist nun mein Fokus.
BDG: Für buddhistische Laien und Menschen, die im Alltag Verantwortung für Familie und Beruf tragen, kann es sehr schwierig sein, eine regelmäßige Meditationspraxis aufrechtzuerhalten. Sehen sie Zeiten in Retreat und Abgeschiedenheit als essentiellen Teil der buddhistischen Praxis?
YMR: Was ich normalerweise dazu sage, ist folgendes: Für mich war das Retreat wunderbar, doch es ist nicht für jede Person notwendig, da durchzugehen. In unserem Leben gibt es viele Herausforderungen und das eine, was ich in meinem Retreat lernte, war der Umgang damit. Üblicherweise verlässt man sein Elternhaus mit etwa 18 Jahren und muss lernen, dann Tag für Tag alleine klarzukommen. Und das Leben präsentiert sich mit vielen Schwierigkeiten. Wenn man meditieren möchte, dann muss man nicht unbedingt ins Gebirge gehen – wir können überall, jederzeit und unter allen Umständen meditieren.
BDG: In den vergangenen Jahren haben sich Meditation und Achtsamkeit als Formen des Wegs zum Glück schnell ausgebreitet, insbesondere in der westlichen Welt. Finden Sie, dass die Fokussierung auf das Erlangen von Glück überhand nimmt, im Vergleich zum Praktizieren, um die Natur der Existenz zu verstehen, wie sie in den Vier Edlen Weisheiten beschrieben wird?
YMR: Ich denke, dass es da manchmal Missverständnisse gibt. Menschen denken manchmal, dass es in der buddhistischen Meditation darum geht, glücklicher zu werden, so wie man Wellness macht! Ich glaube, das wird gerade zu einem ziemlich weit verbreiteten Missverständnis. Meditation ist im Grunde der Versuch, herauszufinden, wer wir wirklich sind – es geht um die Natur von uns selbst, um die Natur der Wirklichkeit und das geht immer tiefer und tiefer… Es gibt viele Schichten zur Meditation und dem, was wir Befreiung nennen. Die Entwicklung von Meditation führt zur Befreiung; sich selbst befreien ist das, was wir im Buddhismus Nirvana und Erleuchtung nennen.
BDG: Denken Sie, dass das für Menschen heute im hektischen Stadtleben erreichbar ist?
YMR: Vollständige Erleuchtung zu erlangen, ist recht schwierig. Doch den ersten Schritt in diese Richtung zu tun, das ist durchaus möglich! Buddhistische Meditation ist ja die Essenz des Buddhismus. In Tibet gibt es alte Menschen, Großmütter und Großväter, die nichts über buddhistische Philosophie wissen. Sie meditieren, ganz einfach. Sie sind in der Lage, die erste Stufe der Verwirklichung zu erreichen und sind erfüllt von Glück! Sie praktizieren mithilfe der Gebetsmühle und verstehen Unbeständigkeit: Wenn ich morgen sterbe, ist es in Ordnung. Wenn ich lange lebe, wunderbar!
Die erste Meditationsstufe kann von allen praktiziert werden, doch die tiefergehenden Ebenen der Meditation sind das Herzstück der buddhistischen Praxis. Das geht nur, denke ich, Schritt für Schritt. Zur Zeit lehre ich das Joy of Living (Lebensfreude) Programm als einen Weg zur Befreiung. ** Joy of Living hat eine säkulare Basis: die grundlegende Meditation. All jene, die wirklich an einer tiefer greifenden Meditationsebene interessiert sind, müssen am buddhistischen Programm Pfad der Befreiung teilnehmen.
BDG: Halten Sie die breite weltweite Akzeptanz der buddhistischen Traditionen aus dem Himalaya für einen positiven Trend? Oder sehen Sie die Gefahr, dass Lehren, Überlieferungen und Rituale, die über Jahrhunderte bewahrt wurden, verwässert und missverstanden werden könnten?
YMR: Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Einige zeremonielle Bräuche mögen nach einiger Zeit verloren gehen, die Essenz jedoch nicht. Der Buddha sagte, dass die Lehren mit der jeweiligen Mentalität, Persönlichkeit und Kultur der Menschen zusammenhängen. In Übereinstimmung damit müssen sich also auch die Lehrbeispiele und -methoden ändern, um zur modernen Weltsicht und Auffassungsgabe zu passen. Heute, im 21. Jahrhundert, sollten wir bereit sein, einige kulturelle Einflüsse, die aus der Vergangenheit stammen, hinter uns zu lassen. Was die Essenz des Dharma betrifft, ist jedoch keine Änderung angebracht.
BDG: Wird das zunehmend kommerzielle und materialistische Erscheinungsbild der Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht unvereinbar mit der Praxis des Dharma?
YMR: Das ist ein ausgesprochen wichtiger Punkt in unserer Zeit. Viele Menschen sind jetzt intensiv auf der Suche, es gibt das Bedürfnis nach Spirituellem… Das ist eine tiefgehende Frage, nicht wahr? Es ist schon möglich, dass der traditionelle Buddhismus letztendlich verschwindet, doch der auf Erfahrung beruhende Buddhismus könnte durchaus eine weitergehende Entwicklung durchlaufen.
BDG: Religion und Spiritualität sind seit jeher dem Missbrauch durch LehrerInnen ausgesetzt, die nicht die Interessen ihrer SchülerInnen in den Vordergrund stellen oder Naivität und fehlende Erfahrung zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen suchen. Haben Sie Ratschläge für die Laien unter Buddhisten – insbesondere für jene, die mit dem Dharma das erste Mal in Kontakt kommen – , um ihnen zu helfen, die Authentizität von LehrerInnen und Gemeinschaften zu erkennen?
YMR: Es ist wichtig, jeden Lehrer und jede Lehrerin zu überprüfen – wirklich wichtig. Es gibt vier wesentliche Qualifikationen, um zu lehren: erstens muss der Lehrer oder die Lehrerin eine authentische Linie haben; zweitens muss die authentische Linie eine Chronik von Studium und Praxis aufweisen; drittens muss der Lehrer oder die Lehrerin Einhaltung von ethischen Grundsätzen, insbesondere von Mitgefühl und Sorge um das Wohlergehen der SchülerInnen, demonstrieren; und viertens ist Bescheidenheit sehr wichtig: Wenn ein Lehrer sagt “Ich bin erleuchtet”, “Ich besitze übernatürliche Kräfte”, “Ich bin etwas Besonderes”, dann ist da etwas nicht in Ordnung; das ist nicht der richtige Lehrer. Diese vier Punkte sind also wirklich entscheidend, wenn man auf der Suche nach einem authentischen Lehrer oder einer authentischen Lehrerin ist.
BDG: Der Buddhismus wird manchmal als eine “wissenschaftliche” Religion bezeichnet und viele behaupten, dass sich buddhistische Lehren unter Zuhilfenahme von Wissenschaften bestätigen lassen. Sehen Sie mögliche Schwierigkeiten, wenn man sich dem Buddhismus von empirischer / materialistischer Perspektive aus nähert?
YMR: Der Buddhismus ist, wie wir es nennen, eine Wissenschaft zur Erforschung der Realität und zur Erforschung der Arbeitsweise des Geistes – wer wir sind, wie wir Realität wahrnehmen. Das ist der modernen Wissenschaft sehr ähnlich. Deshalb benutze ich viele Beispiele aus der Wissenschaft, wenn ich lehre. Es spielt jedoch keine Rolle, ob wir auf moderne Wissenschaft Bezug nehmen oder nicht – die buddhistische Praxis besteht fort. Sie ist nicht auf Wissenschaft angewiesen. Wissenschaft kann als Beispiel dienen, um Realität zu verstehen oder aus anderer Perspektive zu betrachten, doch im Buddhismus gehen wir über Wissenschaft und Intellekt hinaus.
BDG: Während Ihres jüngsten Aufenthalts in Hongkong sprachen Sie das Thema Tod und Sterben an. Auf welche Art und Weise können sich buddhistische Laien dem Thema Tod nähern – wenn es um sie selbst oder um die Fürsorge für Angehörige geht?
YMR: Es ist sehr wichtig, sich auf den Tod vorzubereiten. Ob wir wollen oder nicht, wir alle müssen uns damit auseinandersetzen. Um sich vorzubereiten, müssen wir zu verstehen versuchen, was der Tod wirklich ist und welche Art von Erfahrungen uns entgegentreten können. Im Buddhismus gibt es eine Stufe für Stufe-Beschreibung des Sterbeprozesses. Im ersten Monat meines Wander-Retreats wäre ich fast ums Leben gekommen und ich ging durch all diese Erfahrungen, Schritt für Schritt, genauso, wie es die Lehren beschreiben. Zuletzt sah ich, dass das Gewahrsein nie vergeht und so verblieb ich im Gewahrsein.
Aus diesem Grunde sollten wir Gewahrsein jetzt praktizieren, das Loslassen üben, die tiefere Bedeutung zu verstehen suchen und die Motivation üben. Der Tod ist eine sehr gute Gelegenheit für uns: Für BuddhistInnen ist der Moment des Todes der beste Augenblick, um Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen, denn der konzeptuelle Geist löst sich auf. Und was bleibt? Das reine Gewahrsein, das nicht zerstört werden kann. Versuche daher, die folgende Motivation zu entwickeln: Ich werde für andere sterben! Nutze den Sterbeprozess als Geistesübung; lerne bis zum letzten Atemzug, wachse bis zum letzten Atemzug. Praktiziere bis zum letzten Atemzug – dann wirst du eine große Entdeckung machen, denke ich!
** What is the Joy of Living? (Tergar)