Zuerst im englischen Original erschienen in Lion’s Roar: Deutsche Übersetzung von Tergar Meditationsgemeinschaft e.V. mit freundlicher Genehmigung von Lion’s Roar.
Im März 2012 veröffentlichte Lion’s Roar den Artikel “The Wanderer” über die geheimen Pläne des tibetisch-buddhistischen Lehrers Yongey Mingyur Rinpoche, abzutauchen und ein vier Jahre dauerndes Wander-Retreat zu beginnen. Im November 2015 kam die Nachricht, dass er zurückgekehrt war. Jetzt bringen wir Ihnen ein exklusives Interview, das von langjährigen SchülerInnen von Mingyur Rinpoche unmittelbar nach seiner Rückkehr geführt wurde.
Rinpoche, was hat Sie auf die Idee gebracht, diese Art von Wander-Retreat zu machen, mit Sadhus (Wander-Asketen) auf der Straße in Indien zu leben und in Höhlen im Himalaya zu meditieren?
Ich habe bereits ein traditionelles Drei-Jahres-Retreat gemacht, aber seit meiner Kindheit hatte ich eine starke Sehnsucht nach einer Art Wander-Retreat. Ich mag Berge, ich mag Höhlen und ich war sehr inspiriert von den großen Meditierenden der Vergangenheit und einigen meiner eigenen Lehrer, wie Nyoshul Khen Rinpoche, die solche Retreats gemacht haben.
Warum haben Sie niemandem erzählt, was Sie vorhaben?
Mein Vater, Tulku Urgyen Rinpoche, erzählte mir, dass er ein solches einsames Wander-Retreat machen wollte. Aber als er es versuchte, baten ihn seine SchülerInnen, in sein Kloster zurückzukehren und seine Lehrer ermutigten ihn, dort zu bleiben. Er sagte mir, wenn ich das wirklich tun wollte, sollte ich niemandem davon erzählen. Er sagte: “Sag niemandem, was du tust, bis du zurückkommst.”
Wie war es, von einem bedeutenden buddhistischen Lehrer, der bequem in einem Kloster lebte, zu einem anonymen Sadhu (Wander-Asketen) zu werden, der bettelt und auf den Straßen Indiens lebt?
Ich war fest entschlossen, auf der Straße zu leben, aber ich war naiv zu glauben, ich könnte das sofort. Ich habe eine Weile gebraucht. Meine Identität als Mönch aufzugeben, war eine Sache, und natürlich musste ich auch meinen Wunsch nach Komfort, Nahrung und den Grundbedürfnissen des Lebens, sogar den Wunsch nach Sicherheit, loslassen. Es war ein guter Weg, meine Meditation über das Loslassen zu üben.
Was war die beste Erfahrung, die Sie gemacht haben?
Es war tatsächlich eine Nahtoderfahrung, die ich in Kushinagar machte, kurz nachdem ich mein Retreat angetreten hatte. An dem heiligen Ort, an welchem der Buddha starb,. Ich wurde sehr krank mit Erbrechen und Durchfall und eines Morgens war mein Gesundheitszustand so schlecht, dass ich mir sicher war, ich würde sterben.
Als ich krank wurde, fühlte es sich an, als ginge ich durch eine Art Wand, die fest mit meinem Körper, meinem Komfort, meinen Roben und sogar der Idee von Mingyur Rinpoche verbunden war. Ich ließ langsam los; ließ los, ließ los, ließ los. Am Ende habe ich sogar mich selbst losgelassen. Ich dachte: “Wenn ich sterben werde, okay. Wenn ich sterben werde, kein Problem.” In diesem Moment hatte ich keine Angst.
Ich hatte eine wundervolle Erfahrung. Es gab keinen Gedanken, keine Emotionen, kein Konzept, kein Subjekt oder Objekt. Der Geist war klar und wach wie ein blauer Himmel mit strahlender Sonne, durchsichtig und allgegenwärtig.
Ich hatte eine Art Auflösung, wie sie in den Texten beschrieben wird, und verlor den Kontakt zu meinem physischen Körper insgesamt. Dann hatte ich eine wundervolle Erfahrung. Es gab keinen Gedanken, keine Emotionen, kein Konzept, kein Subjekt oder Objekt. Der Geist war klar und wach wie ein blauer Himmel mit strahlender Sonne, durchsichtig und allgegenwärtig. Es ist sehr, sehr schwer zu beschreiben. Das kann man nicht wirklich in Worte fassen.
Dann kam mir zu einem bestimmten Zeitpunkt der Gedanke: „Okay, das ist nicht die Zeit für mich zu sterben.“ Das hing irgendwie mit Mitgefühl zusammen. Dann konnte ich meinen Körper wieder fühlen und öffnete die Augen. Ich stand auf, um etwas Wasser zu holen, wurde plötzlich bewusstlos und brach zusammen. Ich wachte in einer örtlichen Klinik mit einer Glukose-Infusion im Arm auf. Am nächsten Tag erholte ich mich und verließ die Klinik.
Was ist dann passiert?
Nach dieser Erfahrung fühlte sich mein Geist so frisch an und meine Meditation verbesserte sich um einiges. Ich konnte alles wertschätzen. Aller Widerstand war weg und ich fühlte mich eins mit der Umwelt. Ich konnte auf die Straße gehen und mich über alles freuen. Danach hatte ich keine großen Probleme mehr.
Wie verliefen die verbleibenden Jahre Ihres Retreats?
Im Sommer ging ich in den Himalaya zu buddhistischen Pilgerorten wie Tso Pema und Ladakh, und im Winter ging ich in die Ebenen und verbrachte meine Zeit an buddhistischen und hinduistischen heiligen Orten in Indien und der Terai-Ebene Nepals.
Das Beste war, dass ich frei herumziehen konnte, ohne Verpflichtung oder Zeitplan. Es war völlige Freiheit, wie ein Vogel, der in den Himmel fliegt. Natürlich ging es nicht ohne Angst ab. Ich war obdachlos und manchmal ging mir mein Geld aus. Ich bettelte dann und die Leute gaben mir etwas Geld oder Essen. Andere Male sagten sie mir einfach, ich solle weggehen.
Ich habe meine Meditationspraxis sehr einfach gehalten. Ich habe keine großen Rituale durchgeführt und hatte nur ein paar Texte dabei. In einigen Höhlen hatte ich nicht einmal einen Schrein oder ein Bild des Buddha. Es war sehr einfach.
Wie wird diese Erfahrung nach Ihrer Rückkehr die Art und Weise verändern, wie Sie den Dharma lehren?
Ich möchte auf eine mehr erfahrungsbezogene Art und Weise lehren – nicht nur durch Meditation und Übung, sondern auch in Hinsicht auf Verhalten und die praktische Ebene. Sichtweise, Meditation und Verhalten – diese drei Faktoren sind sehr wichtig. Vielleicht habe ich in der Vergangenheit mehr Wert auf Sicht und Meditation gelegt. Jetzt möchte ich betonen, wie Meditation unser tägliches Leben verändern kann. Kopf, Herz und Verhalten – alle drei zusammen.
Ich denke, dass Glück letztendlich in Wertschätzung und Freude liegt. Alles ist ein Ausdruck von Klarheit, Liebe und Weisheit. Das ist die Auffassung des Vajrayana-Buddhismus – dass wir alle Buddha sind. Diese erleuchtete Natur ist nicht nur in dir. Sie ist überall. Wir können es sehen und schätzen. Das ist die Hauptursache für Glück – Dankbarkeit und Wertschätzung.
Dieser wandernde Rückzug war die beste Zeit in meinem Leben. Ich habe viele Jahre meditiert und natürlich bin ich Meditationslehrer, aber da war immer noch ein Rest von subtilem Stolz, ein subtiles Ego. Jetzt, durch diese Erfahrung, fühle ich mich frei wie ein Vogel, der hoch am Himmel schwebt. Ich bin frei und kann überall fliegen.
(Das heißt nicht, dass ich fliegen kann, okay? Glauben Sie nicht, dass ich fliegen kann!)