Lion’s Roar Interview mit Yongey Mingyur Rinpoche / 26. Mai 2017
Zuerst im englischen Original erschienen in Lion’s Roar: Deutsche Übersetzung von Tergar Meditationsgemeinschaft e.V. mit freundlicher Genehmigung von Lion’s Roar.
Mingyur Rinpoche verbrachte vor kurzem mehr als vier Jahre in einem Wander-Retreat in Indien und im Himalaya. Im Gespräch mit Buddhadharma teilt er uns seine herausforderndsten Momente mit und gibt praktische Ratschläge für die Rückkehr nach Hause.
Beginnen wir damit: Was können Menschen tun, um Einsichten, die sie im Retreat gewonnen haben, nach der Rückkehr zu fördern und zu kultivieren?
Als erstes ist es nötig, jeden Tag in formeller Meditation zu sitzen. Es muss nicht lange sein – vielleicht nur eine halbe Stunde, je nach Zeit und Bereitschaft. Man sollte einmal darüber nachdenken mehr zu meditieren als bisher, sich aber nicht zu viel zumuten. Es ist wichtig, eine Gewohnheit aufzubauen, ob nun zehn oder dreißig Minuten, denn selbst wenn die Menschen Meditation lieben, meditieren viele nicht in einer regelmäßigen Praxis.
Einige Leute sagen, dass sie nicht so oft auf Facebook schauen wollen und denken, dass es Zeitverschwendung ist, aber wenn es darauf ankommt, können sie die Gewohnheit nicht kontrollieren. Um eine Gewohnheit zu beenden, müssen wir eine neue entwickeln. Der Aufbau einer neuen Gewohnheit wird zwanzig bis dreißig Tage dauern. Setzen Sie sich also ein Ziel für formelle Meditation, das in Ihrem Leben umsetzbar ist und halten Sie daran fest – egal, ob Sie es mögen oder nicht – und nach 30 Tagen wird es einfacher, es aufrechtzuerhalten.
Es ist auch notwendig informell zu meditieren, was Sie überall und jederzeit tun können – während Sie spazieren gehen, essen, eine Besprechung abhalten, fernsehen oder auf Facebook schauen. Es ist nicht erforderlich, ein Kissen zu suchen oder eine bestimmte Meditationshaltung einzunehmen. Achten Sie nur auf den Atem, auch nur für ein paar Sekunden. Wenn Sie diese Praxis zu einem Teil Ihres Alltags machen, hilft das die Erfahrungen des Retreats aufrechtzuerhalten.
Nach einem Retreat kann es schwierig oder sogar enttäuschend sein, wieder in den Alltag zurückzukehren. Warum ist das so? Sind unsere Erwartungen zu hoch?
Es hängt von der Meditationstechnik während des Retreats ab. Es gibt eine Menge Missverständnisse über Meditation – viele Leute denken, dass es bedeutet, keine Gedanken zu haben, sich nur zu konzentrieren oder in Glückseligkeit zu schwelgen. Wenn man der Meinung ist, dass der Zweck eines Retreats darin besteht, den Geist ruhig und friedlich zu machen, frei von Gedanken und Emotionen, kann man an diesen Geisteszustand anhaften. Aber der eigentliche Punkt bei der Meditation ist, sich zu verwandeln und nicht nach Frieden und Ruhe zu suchen.
Auch Gedanken und Gefühle können sich in Meditation verwandeln. So wie du dir gewahr bist, dass dein Atem kommt und geht, kannst du deine Gedanken, Gefühle und Schmerzen kommen und gehen sehen. Allmählich wird alles zur Unterstützung der Meditation, und der Unterschied zwischen der Praxis im Retreat und außerhalb eines Retreats verringert sich.
Sie haben während Ihres Wander-Retreats sehr schwierige Bedingungen ertragen und sind sogar ziemlich krank geworden. Dennoch haben Sie es als die beste Zeit in Ihrem Leben beschrieben. Warum das?
Seit meiner Kindheit wollte ich ein Wander-Retreat in den Bergen machen, weil ich Berge und Höhlen liebe. Ich mag es auf Erkundungsreise zu gehen, und das war ein Abenteuer. Ich wollte auch in dieses Retreat gehen, um meine Meditationserfahrung zu verbessern und mehr über das Leben zu erfahren. Ich hatte eine Fantasie über das Wander- Retreat, aber die Realität sah ganz anders aus.
Am Anfang hatte ich etwas Geld, ungefähr 2.000 Rupien, aber nach drei Wochen war alles weg, also lebte ich auf der Straße. Die erste Nacht war sehr schwierig. Ich musste um Essen betteln und wurde krank von etwas, das ich gegessen hatte. Ich hatte drei Tage lang Erbrechen und Durchfall und dachte, ich würde vielleicht sterben. Ich war sehr nervös und fragte mich, ob ich weitermachen oder nach Hause gehen sollte. Obwohl ich schon lange Zeit Meditation praktiziere, hatte ich immer noch viel Anhaftung. Diese versuchte ich loszulassen und wie Schichten einer Zwiebel abzuziehen, aber es gab immer noch mehr. Nach drei oder vier Stunden entschied ich: Okay, ich werde bleiben und wenn ich sterben werde, lass es einfach geschehen. Ich begann Sterbe-Meditation zu praktizieren. Mein Körper löste sich auf, alles verfiel. Ich konnte weder sehen noch hören. Mein Körper wurde gelähmt, aber mein Geist war so klar – jenseits der Zeit, weder ein Innen noch ein Außen, wie der blaue Himmel mit Sonnenschein. Ich blieb ungefähr sechs Stunden in diesem Zustand.
Als ich meine Augen öffnete und mich umsah, wurde alles kostbar. Die Straßen fühlten sich wie mein Zuhause an und die Bäume, sogar die zerbrochenen Mauern hinter mir, sahen so schön aus. Ich fühlte mich so dankbar und glücklich. Als ich endlich aufstand, fühlte ich mich etwas durstig, ging aber nur zwei Schritte, bevor ich bewusstlos wurde. Zum Glück brachte mich jemand in ein Krankenhaus. Weil ich in einer netten Familie aufgewachsen bin und immer einen guten Freundeskreis und Studierende hatte, die auf mich aufpassten, hatte ich in einer Art Kokon gelebt. Wenn ich das Wander-Retreat nicht gemacht hätte, hätte ich diese Erfahrung nie gemacht.
Es ist ungefähr ein Jahr vergangen, seit Sie Ihr Wander-Retreat beendet haben. Wie hat Sie diese Erfahrung beeinflusst? Was hat sich für Sie geändert?
Es hat meiner Meditation sehr gut getan – meine Meditation vor und nach dem Retreat ist völlig anders. Außerdem habe ich jetzt mehr Zuversicht, Vertrauen und mehr Erdung. Selbst, wenn negative Emotionen, Schmerzen oder Probleme auftauchen, ist mein Geist auf einer tiefen Ebene in Frieden.
Was würden Sie jemandem sagen, der zu entscheiden versucht, ob ein Retreat für ihn oder sie richtig ist?
Drei Dinge sind am wichtigsten: Motivation, Gleichgewicht und nicht an der Meditationserfahrung anzuhaften. Erwarten Sie nicht so viel von einem Retreat. Denken Sie nur: Ich werde in ein Retreat gehen, ob es gut sein wird oder nicht. Solange ich in der Woche niemanden töte, ist das in Ordnung. Geben Sie Ihr Bestes und denken Sie aus Gründen der Motivation daran: Ich werde in ein Retreat gehen, um nicht nur mir selbst, sondern auch meinen FreundInnen, meiner Familie, meinen KollegInnen, der Gesellschaft und der Welt Gutes zu tun. Wenn Sie Buddhist oder Buddhistin sind, denken Sie daran, Bodhicitta zum Wohle aller Lebewesen zu wecken, damit Sie ihre wahre Natur erkennen und vollständig erwachen.
Manchmal ist ein Retreat eine wundervolle Erfahrung, und manchmal ist der Geist wild, voller Gedanken und Emotionen. Sorgen Sie sich nicht darum, ob Ihre Erfahrung friedlich ist oder nicht. Versuchen Sie einfach, was ich Null-Meditation nenne. Null-Meditation bedeutet, dass Sie nur versuchen zu meditieren, ohne sich darum zu kümmern, ob Sie eine Meditationserfahrung haben oder nicht. Dieses Bemühen, es zu versuchen, wird Ihnen in Zukunft authentische Meditation bringen. Bleiben Sie also nicht bei der Meditationserfahrung, bleiben Sie einfach bei dem Wunsch zu meditieren. So finden Sie ein Gleichgewicht – geben Sie Ihr Bestes, aber halten Sie sich nicht zu fest an die Ergebnisse. Wenn Sie einen freudigen oder klaren, konzeptlosen Zustand erleben, denken Sie nicht „Ich habe Erleuchtung erlangt“ oder „Diese Erfahrung wird für immer andauern“. Das ist der Geist des Greifens und der Anhaftung. Es ist in Ordnung, sich bei der Meditationserfahrung wohl zu fühlen und dafür dankbar zu sein. Aber haften Sie nicht daran. Heute hatten Sie eine wundervolle Meditationserfahrung – wer weiß, wie es morgen geht?