Ter ist ein tibetisches Wort für Schatz und bezieht sich auf die Weisheit und Methoden, die zur Linderung von Leiden, der Erschließung unseres größten Potentials und letztlich zur Erleuchtung führen. Gar steht für Zusammenkunft und kann demnach bedeuten viele Menschen oder Gegenstände zusammenzubringen. So kann Tergar verstanden werden als ein Ort oder Raum, in dem Menschen gemeinsam diesen erhabenen Schatz entdecken. Und es kann ebenfalls als das Zusammenkommen von Ursachen und Bedingungen begriffen werden, um den transformierenden Prozess des Entdeckens zu ermöglichen.
Die Tergar-Linie ist ein fortwährender Strom von spirituellen Belehrungen, der aus der Verbindung zweier großer Schulen – der Karma-Kagyü- und der Nyingma-Linie – gespeist wird. Eine tiefgründige Alchemie zwischen diesen beiden Traditionen ist an vielen Stufen des Pfades sichtbar geworden und hat ein fruchtbares Feld an Belehrungen und Praktiken hervorgebracht, das viele tausend Schüler weltweit angesprochen hat.
Historisch gesehen wurde die Karma-Kagyü-Linie auf die aufeinanderfolgenden Inkarnationen des Mingyur Rinpoche übertragen, im Wesentlichen durch die Karmapas (zuerst durch den 10. Karmapa) und die Tai Situ Rinpoches (beginnend mit dem 8. Situ). Die Nyingma-Linie hingegen wurde sowohl durch Termas (Belehrungen, Praxisanleitungen und Übertragungen, die von Padmasambhava verborgen und von Inkarnationen seiner Schüler – sogenannten Schatzfindern – wieder entdeckt wurden) als auch durch den Austausch zwischen Nyingma- und Kagyü-Lehrern weitergetragen. In diesem Leben hat der 7. Mingyur Rinpoche die Karma-Kagyü-Übertragungen vor allem durch Tai Situ Rinpoche und Saljey Rinpoche erhalten, die Nyingma-Übertragungen in erster Linie durch Tulku Urgyen Rinpoche und Nyoshul Khen Rinpoche.
Die Tergar-Tradition von heute basiert auf dieser reichen Historie und wird durch den unverwechselbaren Ansatz des aktuellen Mingyur Rinpoche ergänzt. Dieser bezieht moderne Vortragsweisen der Belehrungen mit ein, um sie so den Menschen aller Kulturen und Glaubensrichtungen zugänglich zu machen.
Gründung der Tergar-Linie
Von Beginn an ist Tergar vor allem eine Praxis-Linie. Im späten 17. Jahrhundert gründete die erste Inkarnation von Mingyur Rinpoche, ein erleuchteter, umherwandernder Yogi, Tergar zusammen mit seinen beiden Söhnen, die beide Tulkus (bewusst reinkarnierte Lamas) waren. Zu Beginn versammelten sich seine Schüler in einem Zeltlager (gar), auch die Belehrungen wurden in einem Zelt gegeben. Schließlich erbauten sie ein Kloster (Tergar Rigdzin Kacholing) in der Nähe von Derge in Kham, eine Provinz im Osten Tibets.
Da Mingyur Rinpoche keine weltlichen Anhaftungen hatte, übernahmen seine Söhne die Leitung des Klosters, so dass Mingyur Rinpoche die meiste Zeit darauf verwenden konnte, die Lehren zu verbreiten und damit die Kagyü-Tradition in Tibet von neuem zu beleben, nachdem diese durch politische Turbulenzen geschwächt war. Auch war er ein bedeutender Tertön (Schatzfinder). Die bedeutendsten Termas, die er entdeckte waren Praxistexte zu Dorje Drolo, Pema Benza und die Langlebenspraxis der Vereinigung von Weisheit und Methode, die Mingyur Rinpoche dem 10. Karmapa, dem 8. Tai Situ Rinpoche und anderen Meistern der Tradition überlieferte. Alle nachfolgenden Inkarnationen des Karmapa und des Tai Situ Rinpoche haben diese Übertragungen ohne Unterbrechung gehalten.
Ein großer Teil der frühen Geschichte der Tergar-Tradition (zusammen mit den Biografien des 2. und 3. Mingyur Rinpoche) ist im Zuge der systematischen Zerstörung der tibetischen Texte durch die chinesische Regierung verloren gegangen.
Tergar im Tibet des 20. Jahrhunderts
Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts wurden im ersten Tergar-Kloster in Kham zwei Retreat-Zentren erbaut, sowie ein Nonnenkloster und eine kleine Shedra (Klosteruniversität). Diese fungierten als Ableger von Tai Situ Rinpoches Palpung-Kloster. In ähnlicher Weise gab es ebenfalls ein weiteres Kloster namens Namlong Gompa. Obwohl recht klein, boten die Tergar-Zentren gute Bedingungen für Studium und Praxis, so dass der 6. Mingyur Rinpoche dort über 100 Mönche und 60 Nonnen anleiten konnte.
Als der 16. Karmapa und der junge 12. Tai Situ Rinpoche Tibet verließen und ins Exil gingen, begleitete sie der 6. Mingyur Rinpoche. Gase Rinpoche, die Reinkarnation des ältesten Sohnes des 1. Mingyur Rinpoche, blieb um das Tergar-Kloster weiterhin zu betreuen. Die einfallenden chinesischen Truppen inhaftierten ihn jedoch, raubten alles Wertvolle und zerstörten die Gebäude vollständig.
Als Gase Rinpoche im Jahr 1982 aus dem Gefängnis entlassen wurde, begann er zusammen mit Pema Karpo Rinpoche (einem hingebungsvollen Praktizierenden der Tergar Gemeinschaft) den mühsamen Wiederaufbau des Klosters. Nachdem sie mehrere Schwierigkeiten überwunden hatten, konnten sie wieder einen kleinen Schreinraum und ein Retreat-Zentrum errichten und so die Gemeinschaft von Praktizierenden wiederbeleben. Zu Beginn waren es nur acht oder neun Mönche, doch nach und nach fanden weitere ihren Weg dorthin zurück. Als Mönche begannen, in diesem Zentrum ins Retreat zu gehen und wieder vermehrt Schüler zurück kamen, begann die Tergar-Gemeinschaft in Tibet erneut aufzuleben.
Die Entwicklung der Tergar-Tradition
Von den vielen Faktoren, die die Tergar-Linie seit dem späten 17. Jahrhundert prägten, ist vor allem der kontinuierliche Austausch zwischen den Meistern der Kagyü- und der Nyingma-Linie von größter Bedeutung, insbesondere die enge Beziehung zwischen den Linien der Karmapas (auf der Seite der Kagyüs) und den Haltern der Chokgyur Lingpa Termas (auf der Seite der Nyingmas). Der 14. Karmapa war einer der wichtigsten Empfänger dieser Schatz-Belehrungen und erhielt die Ermächtigungen von Chokgyur Lingpa persönlich. Tulku Samten Gyatso (der Enkel von Chokgyur Lingpa) gab die selben Übertragungen an den 15. Karmapa, Khakyab Dorje, weiter.
Tulku Urgyen Rinpoche, gleichzeitig Neffe von Tulku Samten Gyatso und Vater des 7. Mingyur Rinpoche, war ein Halter vieler Übertragungslinien. Er hielt und erweiterte diese Tradition im Laufe seines Lebens durch den Austausch zahlreicher Belehrungen und Übertragungen mit Meistern der Kagyü- und Nyingma-Linie. Von besonderer Bedeutung sind die Hauptübertragungen des Chokling Tersar (die „Neuen Schätze“ des Chokgyur Lingpa), die er dem 16. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje gab sowie die Übermittlung der Dzogchen De Sum (die Drei Sektionen der Großen Vollendung von Garab Dorje, dem ersten Dzogchen Meister in menschlicher Form) an den 16. Karmapa als auch an Dudjom Rinpoche, Dilgo Khyentse Rinpoche und zahlreiche weitere Lamas der Kagyü- und Nyingma-Tradition.
Unter den vier größeren Kagyü-Schulen war Tulku Urgyen’s Familienzweig der wichtigste Halter der Barom-Kagyü-Linie. Der 15. Karmapa war einer seiner Wurzellamas, durch den er eine starke Verbindung zur Karma-Kagyü-Linie hatte. In der Nyingma-Tradition hielt er die vollständigen Belehrungen der drei großen Meister des 19. Jahrhunderts: Terchen Chokgyur Lingpa, Jamyang Khyentse Wangpo und Jamgön Kongtrul Lodrö Taye. Ebenso hielt er eine überaus tiefgreifende Übertragung der Neuen Schätze seines Urgroßvaters Chokgyur Lingpa: eine Zusammenstellung aller Ermächtigungen, Leseübertragungen und Instruktionen der Belehrungen von Padmasambhava, die Chokgyur Lingpa wiederentdeckt hatte. Tulku Urgyen Rinpoche gab diese Tradition an zahlreiche Lamas einschließlich der Hauptlinienträger der Karma-Kagyü-Linie weiter.
Dieser umfangreiche Austausch zwischen den Kagyü- und der Nyingma-Linien im Verlauf des Lebens von Tulku Urgyen führte zu einem besonders ergiebigem Umfeld, in das sein vierter Sohn, der 7. und aktuelle Mingyur Rinpoche, hineingeboren wurde. Als Kind hatte Mingyur Rinpoche miterlebt, wie sein Vater vielen Menschen mit sehr verschiedenen religiösen und säkularen Wurzeln Belehrungen gab. Inspiriert von diesem nicht-sektiererischen Ansatz, entwickelte sich in ihm die Neugier, Belehrungen und Methoden zu finden, die den größten Nutzen für Menschen anderer Kulturen und Herkunft haben würden und diskutierte diese Fragen mit einigen seiner Lehrer, insbesondere seinem Vater und Saljey Rinpoche. Er erfuhr, dass es eine lange Tradition gibt (begründet im alten Indien), die Essenz der buddhistischen Meditationspraxis durch ein erfahrungsbasiertes Vorgehen zu lehren, darunter die Achtsamkeitsmeditation und die Übungen zur Entwicklung von Liebender Güte und Mitgefühl, so dass Interessierte aller Glaubensrichtungen und Kulturen Zugang dazu erhalten können.