Oktober 2018, Ein Interview mit Yongey Mingyur Rinpoche
Englische Original-Quelle: Buddhistdoor Global
Buddhistdoor Global: Sie werden in Hong Kong im Oktober einen Vortrag zum Thema `Die Vier Edlen Wahrheiten´ halten. Da geht es doch ums Leiden, nicht wahr? Warum sagen Buddhisten immer, dass das Leben leidvoll ist?
Yongey Mingyur Rinpoche: Manche Menschen glauben, dass sich bei den Vier Edlen Wahrheiten alles ums Leiden dreht. Im Grunde jedoch geht es da nur teilweise ums Leid. Ja, am Anfang – in der ersten edlen Wahrheit – wird das Leiden beschrieben. Das ist unsere Realität. Wenn wir unsere Realität nicht verstehen, dann leiden wir umso mehr.
Ich habe einen Bekannten, der das Gefühl hat, schon sein ganzes Leben lang zu leiden. Auch wenn er eine gute Karriere hat, einiges erreicht hat und sogar CEO wurde. Eines Tages ging er in eine Buchhandlung und ein Buch fiel ihm auf. Auf der ersten Seite stand: “Das Leben ist Leiden.” Er war richtig froh! Er hatte herausgefunden, dass er nicht alleine war: “Kein Wunder, das ich mich so fühle!” dachte er.
Danach beschäftigte er sich mehr mit den Vier Edlen Wahrheiten und lernte, dass das Leben nicht nur Leiden ist. Das Leiden findet sich lediglich auf der äußeren Ebene. Die tiefere Ebene geht über das Leid hinaus. Wir erfahren, dass da erstaunliche Qualitäten vorhanden sind, dass uns eine außergewöhnliche wahre Natur innewohnt.
Es stimmt also nicht, dass Buddhisten immer nur über das Leiden sprechen. Wenn wir meinten, dass sich das Leben nur ums Leiden dreht, dann wäre das wirklich beängstigend und deprimierend. Doch so ist es nicht.
In der Tat ist das Wissen ums Leiden der Beginn von der Befreiung vom Leiden. Da gibt es so viel mehr, das wir entdecken können! Das Gewahrsein und die Weisheit sind frei vom Leid. Aufrichtige Liebe und Mitgefühl, Klarheit, Offenheit und Weiträumigkeit … all diese grundlegenden Qualitäten gehen über das Leiden hinaus. Und wir sind nicht von äußeren Umständen abhängig, um mit diesen Qualitäten in Verbindung zu kommen.
Die Wahrheit vom Leiden ist also eine gute Botschaft, die uns zur Befreiung führen kann. Manchmal beginnt die gute Botschaft mit einer schlechten.
BDG: Doch ich leide nicht. Ich habe eine glückliche Familie, einen guten Job und gute Freunde. Alles läuft bestens. Warum sollte ich mich mit Leiden beschäftigen?
YMR: Manche Menschen denken und empfinden vielleicht so. Das Leiden hat jedoch viele verschiedene Schichten. Das Wort Leiden wurde aus dem Sanskrit-Begriff dukkha übersetzt. Die Bedeutung von dukkha ist eher Unzufriedenheit — wir sind nicht wirklich zufrieden, wir können das, was wir haben, nicht wertschätzen und wir wollen immer mehr und mehr.
Es ist das Gefühl, nicht komplett zu sein; das Gefühl, dass etwas fehlt. Wenn wir das Wort “Leiden” hören, dann verbinden wir damit am ehesten Schmerz, Schwierigkeiten, Probleme und eine schwere Zeit. Es deutet jedoch eher auf eine innere Unzufriedenheit hin, ein Gefühl des Nicht-Komplett-Seins.
Wenn wir denken, unser Leben ist gut, dann ist das in Ordnung. Gleichzeitig jedoch können wir uns weiterentwickeln, wachsen und mehr entdecken. Es gibt da wirklich interessante Dinge, uns selbst betreffend, die wir so niemals erwartet hätten. Wir können diese Qualitäten in uns selbst entdecken durch die Praxis der Vier Edlen Wahrheiten.
Eine andere Art und Weise, diese Frage zu beantworten ist: Wir empfinden das Leben allem Anschein nach als gut, doch wir sind uns des Problems vielleicht gar nicht bewusst. Was wir tun ist, etwas wie ein süßes Gift einzunehmen. Das Gift ist sehr süß, doch letztendlich fügen wir uns Schaden zu. Wir wollen die Aufnahme von Gift beenden. Befreiung kommt durch Kenntnis der Vier Edlen Wahrheiten.
Es ist auch wichtig zu wissen, dass es unser Geist ist, der bestimmt, was Leiden ist und was nicht. Es gibt nichts, was wir übereinstimmend als Leiden oder als etwas Schlechtes ausweisen können. Das hängt ganz von der jeweiligen Person ab. Wir können nichts, kein einziges Objekt, finden, welches von jedem als gut oder von jedem als schlecht etikettiert wird.
Als ich jung war, hatte ich Panikattacken. Am Anfang verabscheute ich die Panik. Doch dann versuchte ich, mich damit anzufreunden. Zuerst akzeptierte ich meine Panik. Um sich damit wirklich anzufreunden, muss man die Methode und die Kunst kennen, wie Panik in eine Ursache für Glück übergeführt werden kann. Ich lernte das also und zum Schluss machte mir die Panik nichts mehr aus. Wenn eine Panikattacke aufkam, war es recht spannend, doch ich fühlte mich nicht mehr schlecht dabei. Die Panik wurde zu meinem Freund und Lehrer. Ich habe viel von meiner Panik gelernt. Ich denke, so ist es im Grunde mit allem.
BDG: Ich mag Meditation — zumindest die Idee davon. Kann ich nicht einfach meditieren ohne über das Leiden Bescheid zu wissen?
YMR: Ja, wenn Sie lediglich meditieren wollen, um vorübergehend etwas Frieden und Ruhe zu bekommen, dann hilft Meditation. Das ist hilfreicher, als Kaffee zu trinken oder in der Lotterie zu gewinnen; es ist recht gut. Wenn Sie jedoch bedingungslose Freude, Klarheit und Weisheit finden wollen, dann müssen Sie tiefer gehen. Einfache Meditation genügt nicht.
BDG: Gut, Rinpoche, bitte machen Sie es einfach für mich: Nennen Sie mir drei gute Dinge über das Leiden.
YMR: Erstens: Leiden, Hindernisse und Fehler sind gut für unser Leben, denn wir können daraus lernen. Deswegen sagen wir, dass es keinen Erfolg ohne Hindernisse und Fehler gibt. Die gleichen Fehler immer wieder zu wiederholen bedeutet jedoch, dass sich der Erfolg nicht einstellen wird. Jede(r) von uns besitzt viel Potential, Kraft und Fähigkeiten, doch sie schlummern im Verborgenen. Was weckt all das Potential? Die Schwierigkeiten. Wenn wir ein Problem haben und intensiv nach einer Lösung suchen, dann entdecken wir unsere innere Stärke und Fähigkeiten. Durch das Leiden können wir also in der Tat wachsen.
Zweitens: Das Leiden als Leiden zu erkennen, öffnet den Weg, das Leiden zu beenden. Warum? Wenn wir das Leiden ganz und gar erkennen, wenn wir hinsehen, es beobachten und uns seiner gewahr werden, dann können wir es nicht finden. Letztendlich erkennen wir, dass Leiden das ist, was wir selbst kreiert haben. Es ist, als ob wir uns ein eigenes Gefängnis schaffen und uns hineinbegeben. Und deswegen führt uns das Leiden — lediglich durch das Erkennen des Leidens — zur Freiheit vom Leiden.
Drittens: Für den Meditierenden und den Praktizierenden ist das Leiden als Stütze für das Gewahrsein, das Mitgefühl und die Weisheit sehr von Nutzen. Leiden kann zum Weg werden — Weg zum Frieden, Weg zur Befreiung.