Von Yongey Mingyur Rinpoche, 30. Januar 2019
Zuerst im englischen Original erschienen in Lion’s Roar: Deutsche Übersetzung von Tergar Meditationsgemeinschaft e.V. mit freundlicher Genehmigung von Lion’s Roar.
Zum 40-jährigen Bestehen von Lion’s Roar wollen wir einen Blick auf die nächsten 40 Jahre des Buddhismus werfen. In unserer Ausgabe vom März 2019 teilt uns Yongey Mingyur Rinpoche mit, was er für die hilfreichste Botschaft hält, die der Buddhismus uns in den kommenden Jahrzehnten bieten kann.
Wenn ich an die wichtigste Botschaft denke, die uns die buddhistischen Lehren in den kommenden Jahrzehnten bieten könnten, denke ich natürlich an das Beispiel des Buddha selbst zurück.
Als der Buddha noch ein junger Mann war, wurde ihm bewusst, dass er sich unvollständig fühlte, obwohl er ein privilegiertes Leben hatte, mit Freude und allen Vorteilen seines Status erfüllt. Keine Macht und kein Reichtum führten zu dauerhafter Zufriedenheit. Wie wir alle wissen, verließ er schließlich den Palast und machte sich auf die Suche nach dem, was er vermisste.
Sechs Jahre lang suchte er die großen Lehrer seiner Zeit auf. Er widmete sich ihren Philosophien und subtilen Meditationstechniken. Er beherrschte sie dann auch, war aber immer noch unzufrieden. Er musste noch finden, wonach er suchte.
Schließlich fand er seinen Weg zu den Ufern des Niranjan-Flusses, wo er sich entschloss, zu meditieren, bis er die Antwort gefunden hatte. Er war leer, nachdem er sechs Jahren lang in Wäldern gelebt, lange Zeit gefastet und Tag und Nacht meditiert hatte. Er hatte so sehr und so lange gesucht, dass er keine Optionen mehr hatte. Letztendlich ließ er los.
Der Buddha entdeckte alles in diesem Moment des Loslassens.
Er hatte überall nach dauerhaftem Glück gesucht. Er hatte jede Philosophie studiert, jede Technik beherrscht und Körper und Geist an die Grenzen gebracht. Aber das einzige, was ihm nie in den Sinn gekommen war, war, dass er nicht suchen musste. Dass er schon alles hatte, wonach er suchte.
„Der Schlüssel zu dieser Reise ist Wertschätzung.“
Er ließ also endlich los und ruhte, wahrscheinlich zum ersten Mal seit Jahren. Er erinnerte sich an einen Moment als kleiner Junge, als er unter einem Rosenapfelbaum saß. Er tat einfach nichts. War nirgendwohin gegangen. Hatte nicht auf eine bessere Erfahrung gewartet, um irgendwo anzukommen. Er war einfach nur.
In den darauffolgenden Tagen und Wochen entdeckte der zukünftige Buddha seine eigene erwachte Natur – das, was wir jetzt “Buddha-Natur” nennen. Er hatte großes Mitgefühl – und zwar schon immer. Zeitloses Gewahrsein und tiefe Weisheit waren schon da. Die tiefe Ruhe und Gelassenheit, die er so verzweifelt gesucht hatte, war Teil seiner grundlegenden Natur.
Die Botschaft, die der Buddhismus der Welt in diesen unruhigen Zeiten bieten kann, ist die Einsicht des Buddha, dass wir alle Buddha-Natur haben.
In vielerlei Hinsicht sind wir wie der Buddha. Auch wir bemühen uns verzweifelt darum, in unserem Leben einen Sinn zu finden, etwas innere Ruhe, Freude, Trost und Geborgenheit zu erfahren. Wir jagen flüchtigen Erlebnissen nach und setzen unser volles Vertrauen und Zuversicht in sie, mit der Hoffnung, dass sie uns eines Tages zu dauerhaftem Glück führen werden. Wir bemühen uns so sehr, Erfolg in weltlichen Bestrebungen zu finden, die sich am Ende nie auszahlen werden.
Viele von uns geben dann auf und wenden sich dem spirituellen Pfad zu, aber wir nähern uns diesem mit dem Streben und der Erwartung, die der Buddha ursprünglich hatte. Wir gehen davon aus, dass wir das Problem sind, dass wir ein Werkzeug benötigen, um einige grundlegende Fehler in unserem Geist zu beheben, und dann arbeiten wir mit Meditation, um eine immer wieder unvollständige Gegenwart in Ordnung zu bringen.
Der Buddha hatte gelernt, dass all diese Anstrengung, auch wenn es wie ein schickes “spirituelles” Paket erscheint, unsere tief verwurzelte Angewohnheit stärkt, den gegenwärtigen Moment als Problem anzusehen. Aber wenn all unser Bemühen und Streben auf diesem Glauben beruhen, können wir allenfalls in einer besseren Version von Samsara feststecken. Wir scheinen all die richtigen Dinge zu tun, aber wir finden niemals den Weg aus dem Irrgarten.
Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, zu suchen und zu suchen und niemals zu finden. Es ist wie das Trinken von Salzwasser. Es fühlt sich für einen Moment gut an, macht uns aber noch durstiger als zuvor.
Das Beispiel, das ich schon immer geliebt habe, ist das Bild eines Vogels, der sein Nest sucht. Der Vogel fliegt vielleicht auf der Suche nach Nahrung in die Ferne, wird aber immer nach Hause zurückkehren. Solange er den Weg zurück ins Nest noch nicht gefunden hat, wird er schauen und weitersuchen. Aber wenn der Vogel endlich ankommt, hat er keine Zweifel. Der Vogel weiß, dass er zu Hause ist.
Wir sind diesem Vogel sehr ähnlich und versuchen, den Weg nach Hause zu finden. Wir wissen, dass uns all die flüchtigen Freuden des Lebens nicht zu dauerhaftem Glück führen werden. Wir wissen, dass unsere körperliche Gesundheit zerbrechlich ist und sich unsere Beziehungen und Arbeitsplätze verändern werden. Aber niemand sagt uns, wo Zuhause ist. Alles, was wir tun können, ist, möglichst gut Annahmen treffen oder immer am selben Ort zu suchen, in der Hoffnung, dass wir etwas Neues entdecken.
Der Buddha sagt uns, wo wir suchen müssen. Er zeigt uns, wo wir unser wahres Zuhause finden können, den Ort, an dem wir uns endlich darauf verlassen können, dass unsere Suche beendet ist.
Der Schlüssel zu dieser Reise ist Wertschätzung.
In einer Welt mit so vielen Herausforderungen scheint die Wertschätzung keinen Platz zu haben. Heutzutage werden wir ständig an unsere Probleme erinnert. Depressionen und Ängste nehmen zu, der Klimawandel verursacht Katastrophen auf der ganzen Welt und große Veränderungen in der Gesellschaft bringen so viele Dinge ans Licht, die über Generationen hinweg im Dunkeln lagen.
Wie können wir über Wertschätzung sprechen, wenn wir mit solch massiven Herausforderungen konfrontiert sind?
Wertschätzung ist nicht positives Denken. Es geht nicht darum, sich die Dinge besser vorzustellen, als sie sind. Wertschätzung heißt, sich die Zeit zu nehmen, wahrzunehmen, was bereits da ist, was wir gerade in diesem Moment haben. Diese Fähigkeit gibt uns die innere Kraft, mit unserem Leiden geschickt zu arbeiten und zugleich miteinander verbunden zu bleiben.
Wir haben so viele Qualitäten, denen wir keine Anerkennung schenken. Wie der Buddha entdeckte, ist unser Geist von Natur aus erkennend und klar. Unsere Herzen sind von Natur aus offen und mitfühlend. Wir alle haben enorme Weisheit. Obwohl wir sie nicht immer wahrnehmen, ist diese Buddha-Natur immer mit uns.
Jeden Tag tun wir unzählige Dinge, die diese Buddha-Natur zum Ausdruck bringen – kleine Handlungen des Mitgefühls, Momente der Einsicht und des Verständnisses. Diese Dinge sind so gewöhnlich, dass wir sie nicht einmal bemerken.
Diese Qualitäten zu erkennen, ist wie das Entdecken eines Schatzes, der direkt unter unseren Füßen begraben lag. Was wir entdecken, fühlt sich vielleicht neu und frisch an, aber unsere Entdeckung ist neu, nicht die Qualitäten selbst.
Diese Entdeckung unserer eigenen Buddha-Natur ist die Lösung der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind. Sie gibt uns die Zuversicht, das Mitgefühl und die Weisheit, mit offenem Herzen und klarem Verstand mit unseren eigenen Herausforderungen und dem Leiden der Welt umzugehen.
Wenn wir Wertschätzung zur Grundlage unserer Praxis machen, ist jeder Moment voller Möglichkeiten.