Juni 2011.
Mitten in der Nacht verlässt Mingyur Rinpoche unter größter Geheimhaltung sein Kloster in Bodhgaya, Indien, um ein Wander-Retreat zu unternehmen, das vier Jahre dauern sollte. Wie sein “Kindheitsheld” Milarepa lebt der Tulku auf der Straße, mitten in der Natur, bettelt und entkommt dem Tod nur knapp. Der junge Wandermönch, der die markierten Pfade meidet, erzählt seine Abenteuer im Buch Auf dem Weg – die fesselnde, bewegende Geschichte seines Aufbruchs, in der es darum geht, die Vorstellungen des Dharma wirklich in die Praxis umzusetzen. Eine Konfrontation mit der Realität und sich selbst.
Rinpoche, was hat Sie dazu bewogen, dieses Abenteuer zu unternehmen?
Milarepa hat mich inspiriert. Ich wurde im Himalaya geboren, wo es sehr kalt ist. Abends, nachdem wir eine Thukpa, eine sehr heiße Suppe gegessen hatten, saßen wir um das Feuer, und meine Mutter las uns Biographien verschiedener Meister vor. Wenn sie uns die Lebensgeschichte von Milarepa erzählte, fing meine Großmutter an zu weinen, meine Mutter auch, und dann war ich an der Reihe… (lacht) Ich träumte immer davon, dem Weg dieses großen Meisters und Yogis zu folgen und mich auf ein Wander-Retreat zu begeben. Während unserer Ausbildung beginnen wir mit 3-Jahres-Retreats, die an einem sicheren Ort stattfinden – einzeln oder als Gruppe. Aber ein Retreat ist wie ein Feuer: Man muss damit beginnen, die kleinen Holzstücke auszulegen und sie vor dem Wind schützen, damit die Flammen sich entzünden können. Dann, damit das Feuer wachsen kann, fügt man Holz hinzu, und der Wind, der darauf bläst, verstärkt das Lodern. Für mich war dieses Wander-Retreat wie „trockenes Holz ins Feuer werfen”: dieser tibetische Ausdruck bedeutet, sich ungewöhnlichen Situationen und Hindernissen zu stellen, um aus der eigenen Komfortzone herauszukommen. Dies ist Teil der Praxis.
Nachdem ich mein erstes Einzelretreat beendet hatte, hatte ich bereits den Wunsch, auf Wanderschaft zu gehen, aber ich habe diesen Moment immer wieder verschoben, weil ich Abt wurde, ein Buch schrieb, das ein Bestseller wurde, anfing, in der ganzen Welt zu lehren… Das Selbst wurde immer größer und größer. Im Jahr 2011 habe ich beschlossen, alles stehen und liegen zu lassen, um endlich dieses Wander-Retreat zu machen. Ein Wander- Retreat ist im Grunde eine “umgekehrte Meditation”. In der Meditationspraxis ist der erste Schritt, dieses Feuer sicher und schützend anzulegen. Das ist das, was wir in den begleiteten 3-Jahres-Retreats tun. Wenn dieser Schritt abgeschlossen ist, kann man die Situation „umkehren”, indem man Holz ins Feuer legt und es durch den Wind – insbesondere die äußeren Umstände – anfachen lässt, so dass es größer wird. Dies ist das Gegenteil eines sicheren Einzel-Retreats.
In Ihrem Buch beziehen Sie sich auf den streng überwachte Lebensstil eines Tulku. Was war das Schwierigste daran, “außerhalb” zu leben?
Ich wurde nach nepalesischen Maßstäben mit “einem Silberlöffel im Mund” geboren und auch entsprechend erzogen. Als ich das Kloster verließ, fiel mir auf, dass die Leute mich nicht mehr grüßten, mich nicht mehr erkannten – wo ich es doch gewohnt war, viel Liebenswürdigkeit, gutes Essen zu bekommen, an einem sauberen Ort zu leben, materiell versorgt zu werden… Die ersten Tage war ich sehr verunsichert. Ich war allein, ich fühlte mich nicht sicher. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle beobachteten, ich fühlte mich anders als alle anderen Reisenden. Ich war schockiert über den Dreck auf den Straßen oder an gewissen Orten… Manchmal hatte ich schreckliche Angst – besonders im ersten Monat litt ich. All das war komplett neu für mich, aber ich war ganz allein verantwortlich für diese Situation. Ich hatte mir den Tod meiner äußeren Identitäten gewünscht und wurde nun damit konfrontiert. Also wandte ich an, was ich gelernt hatte. Die Wochen vergingen. Nachdem ich das wenige Geld, das ich bei mir hatte, ausgegeben hatte, bettelte ich um mein Essen und wäre sogar fast an einer Lebensmittelvergiftung gestorben. Aber das war ein wunderbares Erlebnis. Mitten im Leben erfuhr ich die Bardos des Sterbens: Körper und Geist haben aufgehört zu funktionieren, die konditionierenden Gewohnheiten der Vergangenheit waren verschwunden, nur noch reines Gewahrsein war geblieben, und die Straße wurde mein Zuhause.
Sie erzählen, dass Ihre Absicht und Ihr Wunsch, als Sie das erste Mal bettelten, ganz real waren, aber Ihr Körper gelähmt. Bedeutet dies, dass der Körper eine “Einheit von Materie und Denken” ist?
Die Praxis setzt sich aus drei Aspekten zusammen – dem Verständnis (Sichtweise, Meditation und Verhalten), der Erfahrung und der Verwirklichung. In unserem Leben sind wir von unseren Gewohnheiten geleitet, sie stellen eine Form von Widerstand dar. All dies hindert uns daran, uns selbst zu verwirklichen. Eines Tages traf ich WissenschaftlerInnen, SpezialistInnen der Kognitionswissenschaften, die diese Idee mit den drei Buchstaben A, B und C veranschaulichten: A für Gefühle (affect), B für Verhalten (behaviour) und C für Kognition (cognition). Im Buddhismus haben wir das Äquivalent: Die Sichtweise bezieht sich auf das, was kognitiv ist, Wissen. Die Meditation beschäftigt sich mit Erfahrungen, Empfindungen und das Verhalten schließlich ist die Auswirkung, die Anwendung.
Hat dieses Wander-Retreat die Art und Weise verändert, wie Sie Ihre Funktionen jetzt sehen?
Vor dieser Erfahrung habe ich in einem Kokon gelebt. Obwohl ich viele Jahre meditiert hatte, gab es eine Art Barriere, eine Grenze, die ich nicht zu überschreiten wagte. Dadurch, dass ich mich allein auf der Straße wiederfand, ohne Geld, ohne einen Plan, einen Unterschlupf zu finden, lernte ich zu überleben, und fern von allen bisherigen Konditionierungen durch meine gewohnte Umgebung zu leben und mich von meinen vorhergehenden Identitäten zu befreien. Und als ich an der Kremations-Stupa fast starb, erlaubte mein sterbender Körper meinem Geist einen Sprung nach vorne zu machen. Er bot mir dank meiner Erfahrungen und der Vorbereitung durch die Praxis die Möglichkeit reinen Gewahrseins und des nicht-dualen Erkennens von Leerheit. All dies hat eine große Dankbarkeit in mir ausgelöst.
Bevor ich ins Retreat ging, wusste ich nicht, ob es drei oder zehn Jahre dauern würde. Der Grund, warum ich mich entschied, ins Kloster zurückzukehren, war, dass es in Nepal mehrere Erdbeben gegeben hatte, die viele Menschen getroffen hatten, Familienmitglieder, Freunde… Es gab zahllose Tote. So habe ich beschlossen zurückzukehren. Ich schöpfe nun aus den Erfahrungen dieses Wander-Retreats, um zu lehren. Vor und nach diesem Retreat habe ich das Leben im Kloster immer geliebt, weil ich praktizieren und lehren kann, zwei Aktivitäten, die mich nähren.
Hat die Erfahrung des Nah-Todes Ihre Beziehung zur Welt verändert?
Als ich am 5. Tag fast an einer Lebensmittelvergiftung starb, hatte ich zunächst Angst und fragte mich, was ich tun sollte. Ich beschloss dann, die Situation sich einfach weiter entwickeln zu lassen und vor allem nicht ins Kloster zurückzukehren. Ich begann zu beten – ein Gebet für Mut, ein Gebet um herauszufinden, ob es für mich nutzbringender sei, zu leben oder zu sterben – und ein Gebet, um den Mut zu haben, zu sterben, wenn dies der Fall sein sollte. Dann erlebte ich das Bardo des Sterbens, der Auflösung – mein Körper begann sich zu versteifen, ich konnte nicht mehr sehen oder fühlen, aber mein Geist, er war zutiefst gewahr und wurde immer offener und offener. Ich fühlte mich, als wäre ich jenseits der Zeit, es gab kein Vorher und Nachher mehr, kein Vorne und Hinten, es gab nicht einmal mehr Subjekt und Objekt, Dualität… In diesem Zustand blieb ich etwa acht Stunden. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass es nicht das Ende war. Dann erlebte ich ein sehr starkes Mitgefühl, ich fühlte meinen Körper wieder, seine Schmerzen am Anfang, dann kamen nach und nach das Sehen, das Hören usw. zurück. Vor diesem Erlebnis dachte ich, dass die Straßen schmutzig und gefährlich seien, weil mich nachts streunende Hunde angriffen. Nach dieser Erfahrung war all dies kein Problem mehr. Als ich morgens aufwachte, war es ein Neuanfang, die Blätter waren schön, bunt, einladend. Der Wind, normalerweise schwül und feucht, wurde zu einer Art Segen… Das Gefühl der Unsicherheit, das ich vorher hatte, war verschwunden, ich fühlte mich sehr gut, diese Straße war mein Zuhause geworden.
Diese Erfahrung hat mich ganz deutlich gelehrt, dass, wenn man die Welt liebt, dann liebt die Welt einen auch.
Zuerst erschienen in bouddhanews.fr vom 27.9.2019.
Vom Französischen ins Deutsche: Tergar Übersetzungsteam.